Die Migration vom Organ der Rechtspflege zum Dienstleister erlaubt es, den Familiengerichtsprozess in einem neuen Lichte zu betrachten. Das Verfahren hat gute Chancen, sich von einer Streitarena zu einer moderierten Teamsitzung zu entwickeln.

Nehmen wir ein Beispiel, wie es wahrscheinlich in der weit überwiegenden Zahl der Fälle vorkommt. Der Mandant – ein durch die Trennung von seiner Frau emotionell sehr angegriffener Ehemann – beauftragt den Anwalt zur Scheidung. Klar dass die Frau nichts kriegen soll, weder das Haus noch Unterhalt. Am besten wäre es auch, wenn ihr noch die Kinder weggenommen würden. „Dann soll sie mit ihrem Neuen glücklich werden“ grunzt der Mandant noch während der Erstberatung. Der Anwalt – nehmen wir an es handelt sich um einen Geschlechtsgenossen – hat tiefes Verständnis für diese Situation. Auch die emotionelle Verfassung seines neuen Mandanten ist für ihn gut nachvollziehbar. Also bedeutet er ihm: „Machen Sie sich mal keine Sorgen. Das regulieren wir schon“. „Wir“ ist Pluralis majestatis. Gemeint ist eine Regelung im Sinne des Mandanten. Genauer gesagt: ein maximales Ergebnis. Hier werden beide, Anwalt und Mandant schnell handelseinig. Der Mandant hat Vertrauen zu diesem Anwalt gewonnen. Ein Anwalt der ihn so schnell versteht, der sich so schnell in seine Situation hinein versetzen kann und weiß was er will, das ist bestimmt ein guter Anwalt – wenigstens auf den ersten Blick.

Der Auftrag scheint klar zu sein. Das Maximum rausholen bedeutet, das Maximum von dem was möglich ist. Eine Orientierung ergibt das Gesetz. Bei Familiensachen gilt der Halbteilungsgrundsatz. Bekommt der Mandant unter dem Strich mehr als die Hälfte, ist der Sieg deutlich ablesbar. Neben dem wirtschaftlichen Vorteil bekommt er – sozusagen als Zusatznutzen – noch die persönliche Genugtuung der Rache an seiner Frau. Erfolg auf der ganzen Linie. Ein Ausgleich für all das was die Frau ihm angetan hat. Aus der Sicht des Mandanten ist die Welt jetzt wieder in Ordnung. Oder nicht?

Die Auseinandersetzung mit der Frage was gut und schlecht ist, wie Sieg und Niederlage in Trennungssachen wahr genommen werden, ist ein eigenes Thema. Hier ist lediglich darauf hinzuweisen, dass der Mandant seine Bewertung noch mehrfach verändern wird. Besonders wichtig ist es zu wissen, dass er sich dann, wenn die Scheidung auch psychologisch abgeschlossen ist, oft von seiner ursprünglichen Haltung distanziert und sogar den Berater für das Geschehene verantwortlich macht. Scheidung bedeutet nicht nur, sich an dem Prozessgegner zu rächen, ihn zu verletzen und zu erniedrigen. Sie bedeutet auch, die verloren gegangene Selbstachtung wiederzugewinnen, die Angst vor Veränderungen aufzufangen, die enttäuschte Hoffnung auf Versöhnung zu ertragen oder die Auseinandersetzung mit dem religiös fundierten Glauben an einer Ehe auf Lebenszeit. Derartige Beweggründe und die ihnen zugrunde liegenden Emotionen und psychischen Konflikte werden von Rechtsanwälten oft zu Gunsten der am wenigsten ausgereiften Persönlichkeitsaspekte ihrer Mandanten verkannt .

Wie dem auch sei. Jetzt überlegen wir, wie der Anwalt den erklärten Auftrag des Mandaten umsetzt. Es bedarf keines Belegs, dass die höfliche Bitte an dessen Ehefrau, freiwillig von ihren gesetzlich definierten Ansprüchen Abstand zu nehmen, keine große Erfolgsaussicht haben kann. Besser erscheint es, die Stärke zu demonstrieren an der die Gegnerin schließlich scheitern soll. Wir kennen derartige Strategien vom täglichen Leben. Das Feilschen auf dem Basar, der Kampf um den Parkplatz – unsere alltäglichen Konfliktstrategien sind niemandem neu. Demzufolge bemisst auch der Mandant die Vorgehensweise des Anwalts an seinen eigenen Lebenserfahrungen. Es ist deshalb nachvollziehbar, dass er der Überwältigung des Gegners eine hohe Erfolgsaussicht beimisst. Er weiß sogar seinen Freunden und Bekannten zu berichten: „Das ist ein Anwalt, der kann mich gut vertreten. Zu dem habe ich vertrauen. Der versteht mich“. Der Anwalt vernimmt das Lob und führt die Eskalation herbei.

Um die Kontrolle über den Streit zu erhalten, untersagt er seinem Mandanten die direkte Kommunikation mit dem Gegner. In der juristischen Strategie ist es absolut sinnvoll Informationen zu verschweigen oder verspätet vorzutragen. Auch ist es geschickt, nicht gewünschte Forderungen zu erheben, um einen größeren Verhandlungsspielraum zu erlangen. So mag beispielsweise ein Vater das alleinige Sorgerecht für seine Kinder beantragen – obwohl er dies überhaupt nicht will. Seine Chance auf Zugeständnisse wächst jedoch, so dass er später seinen Antrag „großzügig“ wieder zurückziehen kann.

Sie mögen für sich selbst einschätzen, wie häufig derartige Strategien im Prozess Anwendung finden. Auch die Frage ihrer Nützlichkeit soll hier nicht näher behandelt werden. Lediglich am Rande sei erwähnt, dass die zuvor genannten Strategien massiv dazu beitragen, die Beziehung zwischen den Ehegatten zu verschlechtern und eine unter Umständen noch zu erreichende Versöhnung unmöglich machen. In der Justiz stößt das geschilderte Verhalten dennoch – zumindest solange es sich innerhalb der Sittengrenzen bewegt – auf gesellschaftliche und prozessuale Akzeptanz. Nicht nur das. Es wurde vom Gesetzgeber sogar in den Prozessordnungen mit eingeplant. Wäre dies nicht der Fall, würde die Zivilprozessordnung den Beweisantritt beispielsweise als ein Mittel zur Tatsachenaufklärung und nicht als das Angriffsmittel einer Partei bezeichnen. Nach meinem Verständnis kann ein zur Wahrheitsfindung führender Beitrag keinen Angriff darstellen. Auch bräuchten wir keine Vorschriften über die Pflicht beispielsweise zum vollständigen und zeitnahen Parteivorbringen, weil die an einer Klärung interessierten Parteien in keinem Fall ein Interesse an dilatorischen Strategien hätten.

In diesem Beitrag geht es jedoch nicht um die Erörterung der Verfahrensvorschriften oder einzelner Verfahrensstrategien. Es geht um das grundlegende Rollenverständnis. Zur Verdeutlichung möchte ich eine vergleichbare Situation aus einer anderen Perspektive beleuchten. Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Manager, sagen wir ein Produktmanager, dessen Aufgabe es ist, in einem Team zu ermitteln, ob das geplante Produkt eine Chance auf dem Markt hat oder nicht. Als der Produktmanager sind Sie der Teamleiter. Zu Ihrem Team gehören noch der Marketingmanager als Verantwortlicher für die spätere Produktvermarktung und der Controller als der Verantwortliche für die Finanzierbarkeit der Produktion. Unterstellen wir, alle Teammitglieder verstehen sich gut und sind an einem korrekten Ergebnis ernsthaft interessiert. Für die letztgenannte Annahme spricht, dass die Verantwortung für die eventuelle, erfolgreiche Markteinführung von dem Team insgesamt getragen wird. In einem derartigen Setting wird das von dem Produktmanager moderierte Gespräch konstruktiv verlaufen und ein von allen getragenes Ergebnis herbeiführen. Strategien, wie wir sie zuvor beim Anwalt als nachvollziehbar erlebt haben, sind jetzt eindeutig als schädlich zu identifizieren. Stellen Sie sich vor, der Marketingmanager würde wichtige Marktdaten zurückhalten? Ein derartiges Verhalten ist auch im Betrieb nicht auszuschließen. Wir müssen den Sachverhalt nur geringfügig abändern. Unterstellen wir, der Produktmanager habe die Teamleitung vom Marketingmanager übernommen, was für diesen eine ungerechte Degradierung bedeutet hat. Jetzt sind solche Strategien, wie wir sie im Gerichtsverfahren beschrieben haben durchaus auch im Betrieb denkbar – im Gegensatz zum Gerichtsverfahren erfolgen sie jedoch meist unerwartet und verdeckt. Sie sind mit den Aufgaben und Rollen der Beteiligten nicht kompatibel und werden kurzerhand Mobbing genannt. Interessanterweise wird diese Art von Mobbing von der Rechtsprechung scharf verurteilt.

Kommen wir zurück zum Gerichtsverfahren. Jetzt versetzen wir uns in die Rolle des Richters. Wir stellen uns einen engagierten Richter vor, der den unbedingten Willen hat, ein konstruktives, parteiengerechtes Ergebnis herbeizuführen. Lassen sie uns die zuvor beschriebene Strategie des Anwalts aus der Sicht dieses Richters beurteilen. Wird er sich (z.B. in einer Güteverhandlung) nicht auch in der Rolle des Moderators sehen? Wenn er es tut, wird er das eskalationsfördernde Verhalten des Anwaltes als störend empfinden. Er wird dessen Strategie als kontraproduktiv zu seiner eigenen Strategie wahrnehmen und den Anwalt in einer Rolle identifizieren, die ein konstruktives Ergebnis bewusst verhindert. Wie wird der Richter nun reagieren?

Jetzt würde es mich interessieren, welche Strategie Sie als Leser assoziieren . Würden Sie den Richter eher in einer passiven Rolle sehen, in welcher er mit einem zurückweisenden Überraschungsurteil reagiert oder würden Sie den Richter eher in einer Rolle vermuten, die dem Anwalt spontan vor Augen führt, wer die Prozessautorität besitzt und wie man mit „Störern“ umgeht? Was glauben Sie würde geschehen, wenn die Interpretation des Richters in der Sitzung transparent gemacht wird? Würden Sie darauf kommen, dass der Richter die Anwälte nicht nur als Juristen, sondern auch als für den Konfliktverlauf mitverantwortliche Profis anspricht, indem er deren Motive für die schädliche Intervention hinterfragt, also Metakommunikation betreibt? Würden Sie es akteptieren, wenn er sie als den Bestandteil eines Teams ansieht, dessen Aufgabe es ist, für und mit den Parteien eine gute und akzeptable Lösung für den Konflikt herbeizuführen? Weil es sich um Organe der Rechtspflege handelt ist diese Einschätzung ebenso realistisch wie die Auffassung, der Richter stehe operativ vor den Anwälten und sei für das „gute“ Ergebnis alleine verantwortlich.

Spannend ist übrigens auch die Frage, wie der Anwalt agiert, der von dem Richter weiß, dass er destruktive Strategien negativ aufnimmt. Noch spannender ist die Frage, wie der Mandant reagiert, der die Aktionen seines Anwaltes durch die Brille des Richters wahrzunehmen vermag. In jedem Fall könnte der Richter darauf hinwirken, dass nicht der bedingungslose Sieg und die bedingungslose Kapitulation als Verfahrensziel den Prozess dominieren, sondern die konstruktive Lösung des Konfliktes. Diese richterliche Kompetenz lässt sich, wie das „Altenkirchener Modell “ gezeigt hat, relativ leicht verwirklichen, indem die Rollen und Strategien definiert werden. Es kommt zu einer Neuorientierung („Reframing“) des forensischen Streitsystems . Stellen Sie sich vor, der Richter hinterfragt gleich zu Beginn des Erörterungstermins die Motive und Ziele der Parteien und der Parteivertreter für den Prozess. Dabei ist es wichtig, dass die Rache und der Vernichtungswille als legitime und ehrenwerte Zielsetzungen akzeptiert werden. Bereits diese Erörterung verändert das emotionale Setting. Sie schafft Transparenz und eine gute Chance für Metakommunikation. Das Rollenverständnis der Beteiligten ändert sich. Dadurch dass die jeweilige Grundhaltung offen gelegt wird, wird der gesamte Prozess weniger bedrohlich und aggressiv. Jeder Prozessbeteiligte kann den anderen auf seine gerade verfolgte Strategie ansprechen. Stellt es sich heraus, dass die Gegenseite in jedem Fall den unbedingten Sieg möchte, kann man sich darauf ebenso einstellen, wie auf den Wunsch, eine konsensuale Regelung herbeizuführen. Natürlich kann eine derartige Erörterung nur in Gegenwart aller Parteien und Parteivertreter statt finden. Nur so kann sicher gestellt werden, dass sich alle „Teambeteiligten“ für das Ergebnis verantwortlich fühlen.

Glauben Sie bitte nicht, dass der Anwalt bei dieser Art des Konfliktmanagements, das übrigens inzwischen unter dem Begriff der integrierten Mediation spezifiziert wird, sich in seiner Rolle als Interessenvertreter weniger effizient exponiert. Im Gegenteil. Die zwangsläufig einsetzende Metakommunikation macht den Beitrag eines jeden Beteiligten als kausalen Bestandteil dieses konstruktiven Prozesses deutlich. Es wird offen reflektiert wann sich ein Beitrag wie auswirkt und welche Wirkungen sich daraus ergeben. Zumindest in den Familiensachen stellt die Metakommunikation heraus, dass die ursprünglich so nahe gelegene Vernichtungsstrategie regelmäßig den (Langzeit)Interessen der Parteien entgegenläuft. Dass es neben der juristischen Scheidung auch eine psychologische Scheidung gibt und dass sich beide Scheidungen gegenseitig beeinflussen. Paradoxer Weise vollzieht sich für den Anwalt ein optimales Marketing, wenn seine Leistung in dem beschriebenen Sinne transparent gemacht wird. Denn welche Partei frage ich sie, würde es ernsthaft wollen, dass sie schlecht abschneidet?