Viele Probleme in der Mediation sind uns allen hinlänglich bekannt. Manche bestehen in festgefahrenen Standpunkten und Haltungen oder Positionen der Medianten, bei denen sich scheinbar gar nichts mehr bewegt. Sie sind gleichzeitig überhaupt  die Voraussetzung für die Wahl einer Mediation, weil man aus dem vorgefundenen Dilemma herauskommen möchte. Manchmal sind die Fronten aber so verfestigt, dass es keinerlei Möglichkeit zur Kommunikation mehr gibt. Die Parteien reden dann nicht mehr miteinander; sie reden nur noch übereinander. Es gibt keine für beide Seiten akzeptable Lösung.

Im Gegenteil: die Parteien gehen immer mehr einen Weg, der von Ignoranz und Arroganz bis hin zur Anomie oder – manchmal sogar – von institutionellem Zusammenbruch (vgl. SCHARMER, Theorie U) gekennzeichnet ist. Für eine Ehe beispielsweise gilt das entsprechend.

Wie können aber Positionen aufgelöst, Haltungen erneuert und (falsche) Standpunkte verlassen werden? Welche Möglichkeiten hat die Mediation? Sie ist ja nicht nur eine Methode – oder sogar weniger noch; sie ist ein prozessorientiertes Verfahren mit Lösungsorientierung. Das gilt insbesondere für die „Integrierte Mediation“, die eine „Synthese aus verschiedenen Verfahren“ darstellt. Sie strebt eine beiderseitige nachhaltige Konfliktlösung an und versteht die Beteiligten nicht als Gegner, sondern mehr als ein Team. Ihr erklärtes Ziel und die gemeinsame Aufgabe: die optimalste Konfliktlösung herbeizuführen, bei der beide Parteien gewinnen (Win-Win).

Das erfordert von allen Beteiligten, den Mediator eingeschlossen, ein Verständnis des Streitfalles – und zwar in „all“ seinen Dimensionen. Es ist klar, dass sich im Laufe der Mediation diese Dimensionen erst noch oder immer mehr herausbilden; sie sind nicht immer sofort greifbar. Daher ist es wichtig, die Positionen, die Haltungen und die Standpunkte klar beschreiben und verständlich machen zu können. Dies wird jedoch in der Mediation als schwieriges „Terrain“ und gleichzeitig als notwendige Voraussetzung für den Interessensausgleich verstanden. Bevor die Positionen und Standpunkte nicht klar umrissen sind, können die Interessen zwar eruiert, aber nicht erhellt werden.

Das Tetralemma (vier Positionen oder Standpunkte) von Varga von Kibéd bietet dabei eine sinnvolle Hilfe. Es hat eine Struktur, die ursprünglich aus der traditionellen indischen Logik zur Kategorisierung von Haltungen und Standpunkten stammt und auch im Rechtswesen Verwendung findet. Ein Richter kann in einem Streitfall den einen oder anderen Standpunkt zwischen zwei Parteien einnehmen. Er kann der einen Partei recht geben oder der anderen Partei oder beiden oder keiner von beiden.

Das Tetralemma1 ist daher ein sehr gut geeignetes Werkzeug,  ein bloßes Verharren im vertikalen Denken zu vermeiden und sich dem lateralen Denken zu öffnen. „Laterales Denken“ (vom lateinischen latus für „Seite“), umgangssprachlich auch Querdenken genannt, ist eine Denkmethode, die als Kreativitätstechnik und zur Lösung von Problemen eingesetzt werden kann. Iris BERGER, charakterisiert „Haltung“ im Kontext dieser verschiedenen Denkweisen: „Die besten Denkresultate werden erzielt, indem das vertikale und laterale Denken sich in einem permanenten Austausch befinden. Dabei stützt sich das vertikale Denken auf vorhandene Muster, welche vom lateralen Denken geschaffen, weiterentwickelt und revidiert worden sind und so dem vertikalen Denken ermöglichen, sich neu zu orientieren. Das laterale Denken führt zurück zu der Erkenntnis, dass wir ein selbstorganisiertes System sind“ (Kusbuch, 1. Semester, Mediation und integrierte Mediation, 3. Kapitel „Haltung“, S. 270f). So können sich also Medianten als ein „Team“ begreifen – und weniger oder gar nicht als Gegner fungieren.

Das Tetralemma ist eine „Aufstellungsmethode“, die sehr gut geeignet ist, sich in eine Situation zu versetzen und sie gedanklich durchzuspielen. Sie macht vor allem dann Sinn, wenn Medianten sich zwischen zwei extremen Positionen entscheiden müssen und wollen. Oft hat der Mediator es mit einer Art von „Schubkastendenken“ zu tun, das bestimmte Situationen nur mehr abruft und konsequent danach handelt – oft aber schematisch nach alten Mustern. Das führt dann zu festgefahrenen Positionen. Es fehlt die Fähigkeit, in neuen und ungewohnten Situationen nicht einfach nur zu reagieren, sondern die spezifischen Züge und Chancen der neuen Situation zu erfassen, in origineller Weise zu nutzen und zu agieren. Dabei hilft das Tetralemma, das verschiedene Positionen besitzt:

5

         1

4                3

         2

1 – Das Eine

2 – Das Andere

3 – Beides: Wie können Sie beide Positionen vereinen?

4 – Keines von Beiden: Warum können Sie noch keine Entscheidung treffen?

5 – Die Zukunft jenseits der Entscheidung: Gibt es einen gangbaren Weg?

Das „Eine“ kann, für jeden Medianten unterschiedlich, eine Position sein, die er im Kopf hat, die er kennt und mit der er sich schon seit längerem arrangiert. Vielleicht hat er damit schon Erfahrungen gemacht. Jedenfalls ist dies die „Lösung“ für ihn. Der andere mag das unterschiedlich sehen. Aber er sieht es eben so. Für ihn gibt es – zunächst – keine andere Position oder Sichtweise.

Das „Andere“ stellt die gegenüberliegende Ecke des Tetralemmas dar und steht gewissermaßen im Gegensatz dazu. Es muss kein Widerspruch zum „Einen“ sein; es kann sich auch um eine echte Alternative handeln, die ebenso attraktiv ist. Allerdings reicht eine bloße Negation des „Einen“ nicht aus, da ansonsten die Entscheidungssubstanz fehlen würde. Die Frage „Arbeite ich jetzt weiter oder trinke ich einen Kaffee“ ist eine echte Alternative. Aber die Frage „Arbeite ich jetzt oder später“ ist nur eine Scheinalternative; es geht nur um „Ja“ oder „Nein“. Die Frage ist alternativlos; es geht nur um Aktion oder aber Vermeidung.

Mit der dritten Position „Beides“ nehmen wir eine Meta-Position ein. Wir steigen quasi aus dem Geschehen aus und schauen „von oben“ auf beide Positionen. Wir beobachten die gegensätzlichen Standpunkte und reflektieren darüber. Dadurch gewinnen wir Informationen über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der gegensätzlichen Positionen. Der Rahmen meines Bezugs- und Bewertungssystems erweitert sich. Ich lerne vielleicht zu verstehen, dass es zu Position 1 und 2 doch noch weitere Positionen bzw. Möglichkeiten gibt. Ich bin nicht mehr gezwungen, nur zwischen zwei Positionen zu entscheiden. Das kann mich und auch den anderen Medianten „befreien“, sich für Alternativen zu öffnen.  Möglichkeiten der Vereinbarkeit tauchen plötzlich auf.

Varga von Kibéd beschreibt insgesamt 13 Untertypen von „Beides“. Die wichtigsten sind2:

  1. Kompromiss: An Beidem ist etwas, das Sinn macht. Hier ist es wichtig, sich für eines zu entscheiden und das Zweite durch das Einbringen von Elementen desselben zu versöhnen.
  2. Die situative Lösung/Iteration: Manchmal ist das Eine richtig, dann wieder das Andere.
  3. Scheingegensätze: Manchmal kann es sein, dass die Gegensätze gar keine sind, da zu dem „Einen“ eine echte Alternative fehlt (siehe oben: das Arbeiten-Kaffee-Beispiel)
  4. Verdeckte Gewinne: Was ist der Gewinn, wenn das „Eine“ (das „Andere“) nicht gewählt wird?
  5. Ressourcentransfer: Die Kraft des Nichtgewählten fließt  in das Gewählte ein.

Darüberhinaus lassen sich nennen:3

  1. Paradoxe Verbindung: z.B.: „Ständiges Prüfen auf Richtigkeit ist ein Fehler
  2. Übersummative Verbindung: Vorstellung von der Synthese als Ganzem, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Hier werden die Vorstellungen der Konfliktparteien gleichzeitig verwirklicht, wodurch ein größeres Ganzes entsteht.

Die vierte Position „Keines von Beiden“ betrachtet den Konflikt „mit hinreichender Distanz“ ganz von außen. Zuvor, bei der dritten Position, waren wir vielleicht noch teilnehmender Beobachter, der nach Gemeinsamkeiten und Sinn suchte. Hier sind wir  nicht mehr in den unmittelbaren Konflikt verstrickt, so dass es also auch nicht mehr um die „Vereinbarkeit“ geht, sondern um die kontextuelle Situation der Gegensätze. Daraus können sich dann schon klare Interessen oder sogar Lösungen entwickeln. Die Fragen des Mediators könnten dann lauten: „Welche Werte, Bedürfnisse oder Motive stehen hinter dem Einen, dem Anderen oder Beidem“? „Wie sieht das Umfeld aus? Wie sieht es den Konflikt“? „Welche persönlichen Ziele verfolgt der eine oder der andere“?

Varga von Kibéd nennt die fünfte Position „All dies nicht – und selbst das Nicht!“ Sie stellt im Grunde genommen die Negation des Tetralemmas dar. Darin schwingt einerseits „Skepsis“ (All das nicht) mit, aber auch das Aufkommen von etwas Neuem (und selbst das Nicht!). Diese fünfte Position ist „geteilt“ – in die anfängliche „schwache“ Fünf, die Skepsis und  die folgende „starke“ Fünf, die Offenheit signalisiert. Und zwar in alle Richtungen. Damit kann gleichzeitig etwas Neues, das den Interessenausgleich vorbereitet und Lösungen andeutet, entstehen – oder es generiert tatsächlich erneut das „Eine“ und das  „Andere“. Die Entwicklung geht dann, hoffentlich, auf einer anderen, höheren Ebene weiter. Bis der Konflikt „erstirbt“ und die Kontrahenten bzw. Medianten sich „zusammenraufen“ und anfangen, nach gemeinsamen Lösungen zu suchen.

Das Tetralemma ist also, wie ich meine, ein sehr klares, strukturiertes und einfaches Verfahren, um Positionen der Medianten in einer Mediation zu eruieren. In der Ausbildung zum Mediator hatten viele Teilnehmer die Erfahrung gemacht, dass solche „Positionen“ nicht einfach zu bestimmen sind. Andererseits sind sie aber die Basis für die weiteren Phasen im Ablauf der Mediation. Das Verfahren gibt daher dem Mediator Hilfen an die Hand, wie er die Fragen an die Medianten strukturieren kann, um die Position des einen und auch für den anderen oder sogar für sich selbst verständlich zu machen. Oft stehen ja am Anfang der Mediation nicht genügend Informationen zur Verfügung, so dass ein solches Vorgehen gedanklichen Raum schafft. Es können sich beispielsweise „Muster“ (Verhaltensmuster, strukturelle Muster) zeigen, die im Laufe der Mediation dann wichtig sein können.

Hugo Kopanitsak
13.12.2011

1 Griechisch: Tetra = „vier“, Lemma = „Voraussetzung, Annahme“
2
Vgl. Michael Hübler, Tetralemma, 4 Seiten, download
3
Claus Blickhan,  Wege aus dem Konflikt: Vom Dilemma zum Tetralemma, 2005