Vor Jahren hätte ich mir kaum vorstellen können, wie sich Beziehungsverhältnisse zwischen lehrenden und lernenden Menschen so schnell verändern können. In der Schule war das Rollenverständnis schon recht eindeutig: Der Lehrer gab den Ton an und den Stoff vor; die Schüler rezipierten. Als Schüler reagierten wir – mehr oder weniger – auf das, was uns die Lehrer vorgaben. Doch schon damals machte sich bei mir Protest gegen vorgegebenes Wissen breit. An  der Universität schließlich und vor allem mit dem Aufkommen der Protestbewegung der Studenten („Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“) entstand dann auch in mir der Wunsch, elitäre Strukturen und überholte fragwürdige Traditionslinien zu verlassen. Gefordert wurden „Demokratisierung“ und „Mitbestimmung“.

In der Systemischen Beratung ist mir schließlich klar geworden, dass der Therapeut gerade nicht als Experte gegenüber seinem Klienten auftritt. Die entscheidende Frage ist vielmehr, ob er – als Therapeut – aktuell wirklich neugierig auf das ist, was dieser ihm gerade sagt. Und die „Gretchen-Frage“: Will ich mehr über das vom Klienten Gesagte erfahren oder doch nur meine Ansicht, meine Einsichten und mein (Vor-)Wissen übermitteln. Kann ich zuhören, ohne zu bewerten? Kann ich mir vorstellen, dass der Klient selbst Experte für sein Problem ist?

Auch in der sokratischen Lehre diente die unwissende Haltung im Gespräch dazu, den Dialogpartner nicht durch die eigenen Dogmen zu beeinflussen. Als naiver Frager prüfte Sokrates vielmehr seine Gesprächspartner in ihren verbalen „Vorgaben“, verwickelte sie gar in Widersprüche, um sie in einen „Zustand der inneren Verwirrung“ zu verleiten. Dieser Zustand führte zu einer massiven Verunsicherung, so dass Veränderungsprozesse ermöglicht wurden. Es entstand so eine geistige Neuorientierung und ein selbstbestimmtes Lernen. Diese sog. „Mäeutik“ oder „Hebammenkunst“ intendierte keine bloße Wissensvermittlung, sondern die Wiedergewinnung des bereits Gewussten und des nur „verschütteten“ Wissens, so dass tiefere Einsichten möglich wurden. Die Kunst der Gesprächsführung bestand darin, mein Gegenüber zur Betrachtung eines Themas, eines Gedankens oder einer Äußerung so heranzuführen, zu ermuntern oder sanft aufzufordern, dass er für sich selbst den größtmöglichen Nutzen hatte.

Das Wesen der Sokratischen Dialoge bestand darin, konkrete Fragen zu stellen, eine gezielte Betrachtung anzustellen und Meinungen und Ansichten zu reflektieren. Also wirklich neugierig zu sein. So sollten neue Einsichten oder sogar Absichten erarbeitet werden. All dies geschah in Übereinstimmung mit den persönlichen Zielsetzungen des anderen, seinen Werten, seinen Normen und seinen (Moral)Vorstellungen. Das sollte zu widerspruchsfreiem, selbstbestimmtem und eigenverantwortlichem Handeln führen.

In der Mediation gehen wir zwar auch strukturiert und prozessmäßig vor  – ähnlich wie  im „Sokratischen Dialog“. Aber Alltagsbeispiele Analogien, Metaphern, Humor, Ironie, Rollentausch oder vielleicht sogar Übungen sind der philosophischen Methode doch fremd. Dennoch: Die „unwissende“ oder nicht-wissende Haltung des Philosophen ist dem Mediator ebenso zueigen. Im Verlaufe der Mediation muss er immer wieder darum ringen, nicht als Lösungsexperte aufzutreten, nicht als jemand, der die Lösung des Konfliktes bereits kennt. Ziel für den Gesprächspartner sind hier wie dort die Übernahme von Eigenverantwortung, Mut zur Selbstbestimmung, Festlegung eigener Ziele. Das sind für den Mediator Herausforderungen, denen er sich immer wieder stellen muss. In unserer Natur liegt es gleichwohl, uns als Experten zu sehen und auch so auftreten zu wollen. Dazu haben wir Wissen erworben, unsere Ausbildung abgeschlossen und uns der Profession „verschrieben“. Trotzdem ist die Frage: Wie kann den Medianden zu ihrer eigenen Konfliktlösung verholfen werden? Es handelt sich ja nicht um meinen Konflikt; es geht folglich auch nicht um meine Lösung. Wie gelingt es mir dann aber, den/die Medianden in den Status eines Experten zu versetzen, der den Konflikt selbst löst?

Die Antwort ist gleichermaßen einfach wie herausfordernd: indem der Mediator also gerade nicht als Experte auftritt und sich von seiner Rolle und Funktion eines Wissenden „verabschiedet“. Die eigentliche Kunst des Mediators besteht vielmehr darin, in diese Haltung des Nicht-Wissens einzutauchen und den Medianden damit die Gewissheit und Sicherheit zu geben, dass er bzw. sie den Konflikt selbst zu lösen imstande sind. Der Mediator  ist mithin jener „unnütze Knecht“, ohne den es zwar kein Ergebnis gibt, der aber auch selbst „nichts“ zum Ergebnis beiträgt. Man könnte von der „Paradoxie der Mediation“ sprechen. Der Mediator ist aufgefordert, den Konflikt beizulegen oder zu lösen; dafür ist einer der Medianden oder sind beide Medianden auf ihn zugekommen. Die Paradoxie besteht jedoch in der Handlungsaufforderung, die befolgt werden muss, aber nicht befolgt werden darf, um befolgt zu werden. Bestandteil dieser Paradoxie ist eine sog. „Doppelbindung“1). In der Kommunikationstheorie spricht man dann von dieser Doppelbindung, wenn sich die Aussagen, die ein Sender in einer bestimmten Information bzw. Kommunikation gibt, nicht miteinander vereinbaren lassen. So soll der Mediator zwar den Konflikt „lösen“; aber wenn er ihn (selbst) löst, verabschiedet er sich von seiner Rolle als Mediator. Er wird als Experte angesprochen, soll aber nicht als Experte fungieren.

Wenn es dem Mediator folglich darum geht, die gemeinsame Kommunikationsgrundlage zwischen den Medianden zu verbessern, kann er anfangen, sich selbst (nur mehr) in den Prozess der Lösungsfindung hineinzustellen und also nicht zu versuchen, von außen eine Lösung herbeizuführen. Der „Flow“ der Mediation entsteht daraus, dass die Lösung „ohne Zutun“ des Mediators entsteht. Er darf selbst überrascht sein und überrascht werden von der Lösung des Konflikts. Solange er – manchmal (oder oft?) unbewusst– daran festhält, die Lösung zu kennen, wird er die Kommunikation nicht „gewaltfrei“ gestalten können. Die Medianden spüren – früher oder später, dass eine Lösung von außen an sie herangetragen wird. Aufgabe des Mediators ist es aber, die Medianden von der reinen äußeren Beobachtung und dem reinen Sachverhalt wegzuführen und ihnen die Augen für das zu öffnen, was „unter der Oberfläche“ des Konfliktes womöglich lauert: Sympathie, Antipathie, Neid, Gefühle, Trauer, Angst, Tabus, Ideale, Hoffnungen, Rollen, Selbstbilder und anderes mehr. Er wird – wie in der „Gewaltfreien Kommunikation“ üblich – den Zwiespalt zwischen Denken (Richten, Verurteilen, Werten), auf der einen Seite, und Fühlen und Wollen, auf der anderen Seite, aufzudecken versuchen. Und das nicht als Experte. Seine Aufgabe ist es lediglich, die Medianden in die Lage zu versetzen, ihr eigenes Denken zu erfassen, zu beschreiben und zu reflektieren. Mit allen damit verbundenen Gefühlen, Bedürfnissen, Wünschen, Absichten und Motivationen. Indem ihnen diese dadurch bewusst werden, können sie zur Lösung des Konfliktes vorstoßen. Andererseits, wenn sie sich noch nicht über die dem Konflikt zugrunde liegende Problematik im Klaren sind, wenn noch keine Beziehung (Windows 2) entstanden ist, hat der Mediator auch noch nicht seine „Hausaufgabe“ erledigt. Dies impliziert, dass die Medianden ihre Denkweisen, Normen und Ziele voreinander offenbaren. Nur wenn sie keine Veränderung der Positionen wünschen, sind dem Mediator – sprichwörtlich – die Hände gebunden.

Der Mediator sollte daher mit seinem „Werkzeugkoffer“ vertraut sein, ohne diesen allerdings – wie ein Experte – offen zur Schau zu tragen. Er sollte in der Lage und fähig sein, andere „Wahrheiten“ als die eigenen zu akzeptieren. Er muss selbstbewusst genug sein, um als „naiver Frager“ zu erscheinen und den Medianden selbst die Lösung des Konfliktes zu überlassen. Eine solche Haltung mindert den Widerstand der Konfliktparteien und bereitet die von ihnen selbst zu findende Lösung vor. Der Mediator darf wissen, dass (die von den Parteien) selbst gefundene(n) Lösungen, Erkenntnisse und konkreten Handlungen positive Auswirkungen auf das Selbstbewusstsein der Medianden haben und die Eigenverantwortlichkeit fördern und stärken. Damit gelingt die Mediation. Sie scheitert – eher, wenn er selbst Hand anlegt.

Zehn praktische Hinweise

  1. Finde heraus, ob die „Mediation“ im vorhandenen Fall überhaupt angebracht und/oder ausreichend ist
  2. Ermutige die Medianden sich auf die Mediation mit ihrer besonderen Art der eigenen Lösungsfindung einzulassen.
  3. Habe acht darauf, dass die Beziehung Mediator – Mediand (wie oben beschrieben) aufrechterhalten bleibt. Also: Der Mediator als Nicht-Experte.
  4. Habe die Bereitschaft der Medianden zur Veränderung ihrer Positionen im Blick.
  5. Halte fest an deiner Rolle und Haltung als „Geburtshelfer“ (nicht als „Gebärende“).
  6. Bleibe beim Thema und fokussiere auf eine gemeinsame Kommunikationsgrundlage.
  7. Stelle kurze, präzise Fragen.
  8. Vermeide belehrende Aussagen.
  9. Sei offen für das „Modell“ (zur Konfliktlösung) der Medianden.
  10. Sei geduldig und vermeide jegliche „Überheblichkeit“

ANMERKUNGEN

1)Die Doppelbindungstheorie (engl. double bind theory) ist eine kommunikationstheoretische Vorstellung zur Entstehung schizophrener Erkrankungen. Die Theorie wurde von einer Gruppe um den Anthropologen und Kommunikationsforscher Gregory Bateson entwickelt. Sie identifizierten (im Gegensatz zu bis dahin geltenden intrapsychischen Hypothesen) Beziehungsstrukturen, die in der Folge zu Verhaltensformen führen können, die als Schizophrenie bezeichnet werden, und prägten für diese den Ausdruck „double bind“.  Die Doppelbindungstheorie beschreibt die lähmende, weil doppelte, Bindung eines Menschen an paradoxe Botschaften oder Signale und deren Auswirkungen. Die Signale können den Inhalt der gesprochenen Worte betreffen –  oder Tonfall, Gesten und Handlungen sein.

(vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Doppelbindungstheorie)

Hugo Kopanitsak